Harmonie ein Gift?

Da lese ich noch keine viertel Stunde am Buch „Die Weichmacher. Das süße Gift der Harmoniekultur“ und ertappe mich schon das zweite Mal bei dem Gedanken

„So ein Sack!“

– womit ich natürlich den Autoren Thomas Vasek meine. (Entschuldigung für diese Wortwahl, aber offenbar brechen bei mir manchmal unkontrollierbare Emotionen durch. Immerhin weisen sie darauf hin, dass ich mit einer gewissen Leidenschaft an das Buch und sein Thema herangehe. Später werde ich noch erfahren, dass es dem Autoren ganz angenehm ist, wenn Menschen nicht nur die personifizierte und pure Selbstkontrolle sind. Insofern wird er mir die Beschimpfung verzeihen. Immerhin plädiert er für Dissens statt Konformismus. Und im Folgenden werde ich ja auch ordentlich argumentieren.)

Aber erstmal gönne ich mir jetzt schon eine Lesepause und laufe aufgeregt im Wohnzimmer hin und her.

Warum rege ich mich denn so auf?

Kann es sein, dass der Autor genau das vermeintlich emotional intelligente Verhalten hinterfragt, das ich mir über die Jahre bewusst antrainiert habe und mit einem gewissen inneren Stolz durch die Weltgeschichte trage? So nach dem Motto: Schubidubidu, ich habe einen hohen Emotionalen Quotienten (EQ). Juhu! Jetzt ist die Welt in Ordnung.

Und dann kommt da einer daher und schreibt Sätze wie „Emotionale Intelligenz ist eine äußerst subtile Form von Manipulation.“ oder macht Aussagen wie „…ich habe Angst vor emotional gleichgeschalteten Menschen.“. (S. 46 und S. 47)

Kann es wirklich sein, dass es ein Zeichen für fehlende Leidenschaft ist, wenn Wutausbrüche und andere Mängel in Selbstbeherrschung bei der Arbeit fehlen? Herrscht in den heutigen Unternehmen ein Kuschelkurs, über den Verantwortung ans Team abgewälzt wird? Ist Harmonie wichtiger als Authentizität?

Nach diesem ersten Hinterfragen meiner verärgerten Reaktion, kann ich zunehmend verstehen, was der Autor mitteilen will. Er findet es kritikwürdig, wenn „Führungskräfte ihre emotionalen Kompetenzen dazu benutzen, Entscheidungsschwäche zu legitimieren, Kritik zu unterdrücken – oder gar andere Menschen zu manipulieren.“ (S. 51). Ups, da könnte was dran sein. Und auch das hört sich sehr überzeugend an: „Emotionale Intelligenz ist ein wirksames Mittel, um Kritiker, Rebellen und Querdenker auszugrenzen.“ (S. 52).

Selbst die Tatsache, dass der Autor Aussagen wie „Teams wissen mehr!“ oder „Teams sind kreativer!“ als Mythen deklariert und für seine Behauptungen auch unterstützende Studien und Beispiele anführen kann, macht es nicht leichter, Schwächen am eigenen Harmonieverhalten einzusehen oder die eindeutige Kritik an zu harmonisch konsensorientiertem Führungsstil ganz objektiv auf sich wirken zu lassen.

Ich denke, vielen Lesern wird es so gehen bzw. gegangen sein wie mir. Es gibt einen gewissen inneren Kampf, wenn jemand provokant von „Wertschätzungslüge“ spricht oder im Zusammenhang einer harmonischen Teamkultur Ausdrücke wie „Das Schweigen der Lämmer“ ins Spiel bringt.

Es lohnt sich aber meiner Meinung nach durchaus, sich provozieren zu lassen. Ich selbst ertappe mich immer öfter dabei, wie ich mit dem neuen Blickwinkel Situationen der eigenen Erfahrungswelt neu bewerte. Dabei bin ich bei einem Teil der erinnerten Szenen erleichtert, dass mein eigenes hinterfragendes und von der Gruppenmeinung abweichendes Verhalten gar nicht so „böse“ war, teilweise bin ich schockiert, wenn ich mich im Nachhinein als manipuliert erkenne.

Einige meiner Glaubenssätze sind ins Wanken geraten. Nun muss ich Vaseks Aussagen verdauen. Im Laufe der Zeit werde ich wohl einige davon (höchstens leicht modifiziert) übernehmen. Doch andere werde ich auch verwerfen. Schließlich will und soll ich ja mein Mäntelchen nicht vom alten  in den neuen Wind hängen.

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